"Die
hätten wir auch gern unter Vertrag"
Der
Plattenumsatz mit aktueller Pop-Musik geht rapide zurück, die Branche
ist auf der Suche nach neuen Stilen und neuen Gruppen - wohin marschiert
der deutsche Rock? Die Plattenbosse wilden im Underground, wer Umsatz
verspricht, wird angeheuert. Der spektakulärste Durchbruch gelang
der Berliner Band "Rainbirds".
Die Manager
der Firma "Phonogram" konnten es kaum fassen. Da hatten sie
in Berlin eine Newcomer-Band mit völlig unbekannten Musikern unter
Vertrag genommen, Ende 1987 eine Langspielplatte auf den Markt geworfen
und, unerwartet, einen der spektakulärsten Coups in der Geschichte
des traditionsreichen Unternehmens gelandet.
Die "Rainbirds"
griffen für ihre gleichnamige LP schon nach drei Monaten eine "Goldene
Schallplatte" ab. Inzwischen gingen mehr als 400 000 Stück über
den Ladentisch, und die Platin-Verleihung folgt demnächst. Fachzeitschriften
lobten das Debüt mit unverhohlener Begeisterung. Rundfunkanstalten
dudelten es rund um die Uhr. Selbst die Feuilletonisten der gehobenen
Blätter schlugen Töne an, wie sie die neue deutsche Musikszene
seit Jahren nicht mehr vernommen hatte. An der Fülle unverbrauchter
Klänge berauschte sich "Die Zeit". Die "Frankfurter
Rundschau" erlag dem "Charme ohne Schnörkel, und der Rezensent
der "Stuttgarter Zeitung" gewann sogar Freude am eigenen Beruf:
"Deutschlands Kritiker können aufatmen."
Anscheinend
völlig unbeeindruckt von den Superlativen gibt sich die Formation.
Katharina Franck, die Sängerin: "Wir sind irgendwie normal und
stellen nicht dar, was wir nicht sind. So etwas überzeugt die Leute"
- Bühnen-Habitus und Kleidungsgewohnheiten der vier scheinen die
These zu bestätigen. "Das einzige Image, das wir haben, ist,
daß wir keins haben." Völlige Einigkeit herrscht bei der
Gruppe in der Ablehnung von Extremen: "So wie wir aussehen, klingen
wir auch."
Die "Rainbirds" spielen eine sehr eingängige, moderne
Folk-Rock-Mischung. Wichtigster Aktivposten der 1986 gegründeten
Band ist Katharina Franck, der Kritiker sogar das Potential zur genuinen
Rock-Diseuse zutrauen. Ihre selbstgestrickten Songs, allesamt in englischer
Sprache, bewegten die sonst zurückhaltende "Süddeutsche
Zeitung" zu dem Prädikat 'enorm'.
Der Erfolg scheint einer Branche Hoffnung zu verheißen, die seit
Jahren der Zukunft nur noch mit Grausen entgegensieht. Der Umsatz mit
aktueller Popmusik geht rapide zurück. Das vorjährige Umsatzplus
(acht Prozent) schaffte die Pop-Branche mit Altmaterial, das die Branchenriesen
auf Compact Discs gepreßt haben. Ein Branchenkenner: "Ohne
die CD würden wir alle am Hungertuch nagen."
Um so hellhöriger reagierten die Plattenbosse auf die eingängigen
Klänge des neuen deutschen Pop-Wunders "Rainbirds". Uberall,
von WEA bis Polydor von CBS bis Ariola, wurde der "Rainbird"-Erfolg,
wurde der Sound der vier Berliner analysiert- zu einer schlüssigen
Erklärung kam keiner. Fest steht nur was CBS-Chef Jochen Leuschner
eingesteht: "Die hätten wir auch gern unter Vertrag genommen."
In der Branche setzte eine Mechanik ein, die von Kritikern spöttisch
als "Nena"-Effekt bezeichnet wird. Ähnlich wie 1982, als
der Hagener Teeniestar Susanne Kerner ihre "99 Luftballons"
aufsteigen ließ, sollen nun alle deutschen Gruppen möglichst
wie die "Rainbirds" klingen.
Der fromme Wunsch dürfte so leicht nicht in Erfüllung gehen.
Was die Platenbosse nämlich vergrätzt (und was gleichzeitig
die Pop- und Rockkenner entzückt), ist eine erstaunliche, oft sperrige
Vielfalt der Musikszene. Die Bands lehnen sich an die unterschiedlichsten
Vorbilder an, altbekannte Richtungen werden weiterentwickelt, Stil ist
wichtiger als Aussage. Diedrich Diederichsen, Chefredakteur des Fachblattes
Spex": "Das hat nichts mehr mit Mitteilung zu tun, man
will sich in einem bestimmten Stil wohlfühlen."
So mögen sich denn auch nur wenige Gruppen darauf einlassen, leicht
verdaulich und eingängig zu klingen wie die Berliner "Rainbirds"
- Erfolg oder Mißerfolg werden damit unkalkulierbar.
Durch den
ständigen Zwang, immer wieder neue Gruppen in immer schnellerer Folge
auf den Markt werfen zu müssen, höhlt die Industrie obendrein
das Fundament aus, auf dem sie ruht. Nur selten verlassen sich die Großen
der Branche auf eigenes Gespür, kaum mehr bauen sie geduldig Newcomer-Bands
auf. Statt dessen werben sie bei den kleinen, schnell und flexibel auf
musikalischen Geschmack der jungen Kundschaft reagierenden Firmen vielversprechende
Bands ab - Bands, die bei den sogenannten Independent-Labels die höchsten
Umsätze erzielen. Ein Brancheninsider: "Talentsucher sitzen
heute nur noch am Schreibtisch und lesen nach, wer im Independent-Bereich
mehr als 5000 Platten verkauft."
Dieses Ausmelken der unabhängigen Firmen, im Branchenjargon Indies
genannt, ist für die Entwicklung einer eigenständigen deutschen
Musikszene um so gefährlicher, als es die kleinen, unabhängigen
Firmen waren, die Ende der siebziger Jahre neue und interessante Stilrichtungen
pflegten.
Inzwischen aber funktionieren die schnellen Kleinbetriebe nur mehr als
Selektionsinstanz die der Industrie die Nachwuchsförderung abnimmt
- und dafür mit Krümeln abgespeist wird. Alfred Hilsberg,
39, der ehemalige deutsche Unabhängigen-Papst, Inhaber des in der
Szene legendären Underground-Labels "What's So Funny About":
"Wir machen die Arbeit, die Industrie verdient die Kohle."
Immerhin: Zumindest einer der Branchenriesen, die "Deutsche Grammophon"
hat Konsequenzen gezogen: Sie verpflichtete einen jungen Pop-Journalisten
als Manager, der im deutschen Musik-Untergrund als intimer Kenner der
Unabhängigen-Szene bekannt ist. Tim Renner, 24, will zur Errettung
der von chronischer Erfolgslosigkeit auf dem Popmarkt geplagten "Deutschen
Grammophon" in Zukunft nicht Durchschnittsware verpflichten, sondern
Bands, die "eher unkonventionell klingen".
So heuerte er zu seinem Einstieg die Berliner Szene-Helden "Element
of Crime" an. Das Quartett spielt mit trockenem Baß und
scheppernder Gitarre eine Art Großstadt-Blues für Asphalt-Cowboys.
Der Sänger Sven Regener steht laut Kritik "in der Tradition
der großen Näsler der Popgeschichte" und verfaßt
Texte, O-Ton Regener, "die von hinten durch die Brust ins Ohr gehen".
Mag sein, daß die neue Marketing-Strategie der Deutschen Grammophon"
tatsächlich nicht nur Gewinne abwirft, sondern auch die Szene ermutigt.
Das Unternehmen verpfichtete nebenher das Aushängeschild der deutschen
Independent-Szene, die Dortmunder Schrägtöner "Phillip
Boa And The Vodoo-Club". Boa kombiniert einfache Melodien mit
skurrilen Texten, die er in sperrige Arrangements verpackt.
Zu schrillen
Gitarrenakkorden und buschtrommelartigen Schlagzeugklängen steuert
Boa-Freundin Pia Lund brüchigen Schwanen-Gesang und quietschende
Synthesizerklänge bei - eigentümlicher Kontrast zu Boas roher
Stimme. So entsteht eine Musik, die Boa gerne als "teutonisches Höllengebreughel
bezeichnet".
Renner glaubt, daß sich diese Mischung langfristig durchsetzt.
Weil Boa es verstehe, "über die verschiedenen Zeitgeist-Medien
klarzumachen daß es imagemäßig wichtig ist, seine Platten
zu besitzen", würden "Trends produziert". Denn: "Da
die Platte rnindestens einmal gehört werden muß, um zu wissen,
was das überhaupt für eine Musik ist, findet beim Hören
eine Erziehung statt."
Renners kommeniell begründete Geschmackspflege der Plattenkäufer
ist denn auch die Ausnahme in Deutschlands Pop-lndustrie. Hamburgs RCA
etwa bemühte sich von Anfang an um gängige Ware. Mit der Hamburger
Formation "Grace Kairos" haben sie schöngeistigen
Konsum-Pop eingekaut. Sänger und Bandleader Timo Blunck nahm
sich den Pop-Kleiderständer Bryan Ferry und die Mainstream-Ästheten
"ABC" zum Vorbild.
Und die deutsche Filiale der englischen Firma "Rough Trade",
ein Unternehmen aus dem Independent-Bereich das mittlerweile mit einem
Jahresumsatz von über 15 Millionen Mark mehr Marktanteile hat als
manche etablierte Industriefirma, sicherte sich die Vertriebsrechte für
die Debut-LP der Krefelder Band "M. Walking On The Water".
Das Niederrheinquartett spielt eine Art Säufer-Rock in der Tradition
der irischen Biertrinker-Kapelle "The Pogues". Seine
Melodien sind eingängig und verleiten das Publikum zum Mitgröhlen.
In einem gleichen sich alle Bands: Sie zielen auf den intemationalen Markt.
Kein Wunder also, daß der deutsche Nachwuchs auf englische Texte
schwört. Und für den musikalischen Landesverrat haben die deutschen
jungen Musiker sogar beste Gründe.
Einheimisch klingende Texte nämlich gelten den Jungen als Markenzeichen
dumpfen "Deutschrocks" von Veteranen wie dem schwerfälligen
Deutschtümler Klaus Lage mit seinen betulichen Seelenblähungen
oder des Siebenbürger Knödel-Ledermanns Peter Maffay.
Jung-Star Boa: "Das ist einfach schlecht, sozialpädagogischer
Anspruch der siebziger Jahre."
Nach den Latzhosen-Liedern der siebziger Jahre, nach dem Bombast-Rock,
nach dem Absturz der Neuen Deutschen Welle in neudeutsche Infantilitat
Mitte der achtziger haben die jungen Musiker die alte Erkenntnis wieder
gewonnen, daß Pop seinem Wesen nach angloamerikanisch ist, daß
deshalb Englisch auch am besten dazu paßt. "Rainbird"-Katharina
Franck: "Deutscher Gesang in deutscher Popmusik grenzt meist
an Unmusikalität", und auch Timo Blunck sagt: "Auf
deutsch gibt es keine guten Metaphern."
Zumindest fallen den des Englischen meist nur begrenzt mächtigen
Konsumenten schlechte englische Metaphern deutscher Texte nicht unbedingt
ins Auge. Die Textzeile "Why'd you hide your tears behind your laughing"
der Gruppe "M. Walking on the Water" klänge in deutscher
Übersetzung sofort nach DDR-Rock: Warum versteckst du deine Tränen
hinter deinem Lachen?
Und auch Blunck, der noch zu Zeiten der Neuen Deutschen Welle in
der Gruppe "Palais Schaumburg" mit Zeilen wie "Gibst
du mir Wasser, rühr' ich den Kalk" Aufsehen erregt hatte, läßt
seine "Grace Kairos" nun altenglisch singen: "Rainy
days last forever, rainy days leave you never", allewiglich dauert
die Regenzeit.
Daß dergleichen Bemühungen um den Anschluß ans Weltniveau
noch lange keine Erfolgsgarantie für die Deutsch-Popper bieten, ahnt
düster sogar Bluncks Plattenfirma.
RCA-Pressesprecher Jörg Troska über die ranschmeißerische
Strategie seines Schützlings: "Das ist, als wenn ein Bettler
vom Rolls-Royce träumt."
SPIEGEL
Nr. 22 | 30.5.1988
Mit freundlicher Genehmigung!
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