"Neue
Deutsche Welle"
Die
deutschen Bands kommen! Der Frühling schwemmt sie in die hiesigen
Konzerthallen. Allerdings heißen sie nicht mehr Ideal, Nena oder
Markus, sondern Phillip Boa & The Voodooclub, M. Walking On The Water,
Tom Mega, Fury In The Slaughterhouse, Alien Fire und Cliff Barnes &
The Fear Of Winning.
Bei ihnen
klingelten wir an, um etwas in Erfahrung zu bringen über die NEUESTE
DEUTSCHE WELLE. Als progressive deutsche Bands werden sie bei den Plattenfirmen
gehandelt. Seitdem Produkte von einem Herrn Phillip Boa mit seinem
Voodooclub sechsstellige Verkaufszahlen erreichen, gehen bei den Firmen
die roten Lampen an, die Alarmglocken klingeln in den höchsten Tönen:
Daß man mit solcher Musik derartige Umsätze machen kann, damit
hatte keiner gerechnet, außer Herrn Boa selbst, der jahrelang daraufhin
gearbeitet hat, einmal einen Hit in Deutschland zu landen.
Dafür gründete er seine eigene Plattenfirma, steigerte von einer
Veröffentlichung zur nächsten konstant die Verkaufszahlen und
dann - die Fans witterten Verrat am Independent-Gedanken - ging er zur
Polydor, einer Major-Company.
Ein Modell? Boa als Vorbild? Nein, aber man muß ihn schon als Vorreiter
auf einem Weg sehen, der für nationale Rock- und Popbands erfolgversprechender
erscheint, als der übliche, der hinreichend bekannt ist: Eine Trendsetter-Band
ist erfolgreich. Alle Plattenfirmen nehmen mit der gewohnten Verzögerung
Bands unter Vertrag, die in dieses Trendschema passen und werfen Produkte
auf den Markt, von denen man hofft, daß sie trendgemäß
gut verkauft werden. Trifft das nicht ein, werden die Kapellen wie heiße
Kartoffeln fallengelassen. Abgesehen davon, daß dieses Schicksal
viele substanzlose Gruppen zurecht ereilt, verschwinden durch diesen Mechanismus
allerdings auch einige von der Bildfläche, die durchaus das Potential
für eine musikalische Karriere hätten - ein Tribut, das man
dem System offensichtlich zollen muß. Oder vielmehr zollen mußte,
denn so funktioniert es in bestimmten Bereichen des deutschen Musik-Geschäftes
nicht mehr.
Bis eine erfolgversprechende Band bundesweit wahrgenommen und vom Publikum
akzeptiert wird, hat sie in der Regel jahrelange harte Arbeit und viel
Ärger hinter sich.
Thorsten Wingenfelder, Gitarrist der Hannoveraner Band Fury In The
Slaughterhouse: "Zunächst haben wir in unserer Region jede
Menge Live-Konzerte gegeben, bis die Leute auf uns aufmerksam wurden.
Dann sind wir erstmal von zwei sogenannten Plattenfirmen über den
Tisch gezogen worden. Die eine 'Firma', die unsere erste LP herausbringen
wollte, war schon pleite, bevor die Platte überhaupt gepreßt
war, so daß nur eine handvoll davon tatsächlich in den Handel
kam. Eine von denen ist allerdings bei Radio ffn gelandet, und das war
das beste, was uns passieren konnte. Viele Leute in Norddeutschland rannten
in die Plattenläden, um unsere Scheibe zu kaufen, nachdem sie mehrmals
auf ffn gelaufen war, doch dort gab es sie nicht. Sowas sorgt natürlich
für einigen Wirbel, so daß unsere jetzige Plattenfirma einsah,
daß wir kein lokales Thema sind."
Die ebenfalls in Hannover ansässige Firma SPV Records sollte es nicht
bereuen, Fury In The Slaughterhouse damals unter Vertrag genommen zu haben,
denn mittlerweile gehört die Band zu den Zugpferden im SPV-Katalog.
Ist Fury mit der Arbeit der Firma zufrieden? Wingenfelder: "Durchaus!
Denn wir haben bei denen die Freiheit, unsere Sache so durchzuziehen,
wie wir es für richtig halten. Auch wenn man SPV mittlerweile zu
den kleinen Major-Companies zählen muß, ist es der Independent-Charakter,
der uns dort gefällt: wir sind 'unabhängig' von irgendwelchen
Zwängen."
Aber sogar bei einer kleinen oder Independent-Plattenfirma fällt
einer Band diese Freiheit nicht in den Schoß, sie muß dafür
kämpfen. Und ihre Musik muß Substanz haben. Mit 'Hooka Hey'
haben die Furys eben ihr drittes Album auf den Markt gebracht und beweisen
damit, daß sie eine ernstzunehmende Größe im deutschen
Rock-Business darstellen. Ausgereift kommen die Songs daher, eine überzeugende
Produktion. Dahinter steckt selbstverständlich eine Menge Arbeit.
Wingenfelder: "Wenn du die Kontrolle behalten willst, mußt
du auch viel selbst machen. Wir schneiden gerade das aktuelle Video, vorgestern
haben wir die Gestaltung der Promotion-Aufkleber festgelegt, in den nächsten
Tagen befassen wir uns mit der Organisation und Produktion der anstehenden
Live-Tour. Bei den großen Plattenfirmen läuft das alles ohne
dich. Du hast dann zwar nicht so viel Streß, mußt dich hinterher
aber auch nicht wundern, wenn etwas total schiefläuft."
Daß es auch bei den Majors anders geht, beweist die Firma Polydor,
die bei der Präsentation deutscher Rock- und Popbands offensichtlich
eine Sonderstellung einnimmt. Gleich vier der wichtigsten Vertreter anspruchsvollerer
Musik, nämlich The Jeremy Days, Phillip Boa & The Voodooclub,
Poems For Laila und M.Walking On The Water sind auf diesem
Label untergekommen und scheinen zufrieden zu sein. Marius Maria Jansen
und Mike Pelzer, die Gründer von M.Walking On The Water, schildern
ihren Werdegang: "Wir haben als Duo Straßenmusik gemacht. Daraus
entstand das 'Theatre Du Pain', eine Theatertruppe. Wir waren ständig
unterwegs, mit einem bis unters Dach beladenen VW-Bus, haben an jeder
Ecke gehalten und an den unmöglichsten Plätzen Konzerte gegeben.
Diese Tradition hat sich auch bei M.Walking On The Water fortgesetzt,
so daß wir bald auf eine treue Fangemeinde setzen konnten, die uns
von unseren Live-Auftritten kannte. Das ist schon die halbe Miete, obwohl
wir damals teilweise nicht wußten, wie wir im Winter die Kohlen
bezahlen sollten!"
Die Wasserläufer brachten ihre ersten LPs bei einer kleinen Bremer
Firma namens Fuego heraus. Es war eine erfolgreiche Zusammenarbeit.
Trotzdem beschlossen die beiden, jetzt einen Vertrag mit dem Major Polydor
zu unterzeichnen.
"Ab einer gewissen Größenordnung sind solche Firmen einfach
überlastet. Jetzt arbeitet der Chef von Fuego als Manager
der Band, den Rest erledigt die Polydor. Wir würden aber jeder Combo,
die gerade anfängt, davon abraten, einen Vertrag mit einer großen
Firma zu unterzeichnen, falls sie ein solches Angebot bekommen."
Ihr Tip für alle Einsteiger ist, lieber selbst ein Label zu gründen
und darauf eine Platte veröffentlichen. "Man lernt mehr und
wird nicht von Anfang an bevormundet."
Es scheint diese Art von Pioniergeist zu sein, gekoppelt mit einer guten
Portion Ausdauer und Dickköpfigkeit, die den 'progressiven Bands'
zum Erfolg verhilft.
Trotz handfester
Probleme ist Chanson-Rocker Tom Mega einer der hartnäckigsten
Vertreter dieser Species. Jahrelang mit der Punk-Band Me & The Heat
auf den Bühnen der Republik unterwegs, stellte sich trotzdem nicht
der richtige Erfolg ein. Er gab nicht auf, bastelte nach der Bewältigung
seiner Drogensucht an einer Solokarriere, die nun endlich Früchte
trägt. Tom Mega: "Ich habe jetzt meine zweite Solo-LP bei Rough
Trade Deutschland (RTD) herausgebracht und bin mit der Firma sehr zufrieden.
Bei der ersten Scheibe hat sich RTD noch schwer getan, aber mit der aktuellen
'Book Of Prayers' läufts sehr gut." Das mag daran liegen, daß
Rough Trade ihr Label 'Our Choice' mittlerweile wieder besser im Griff
hat.
Dietrich Eggert, maßgeblicher Mitarbeiter von RTD: "Das Label
gibt es eigentlich schon seit sieben Jahren und war gegründet worden,
um deutsche Bands darauf zu veröffentlichen. Nach zwei Produktionen
ist das Projekt eingeschlafen. Vor einem halben Jahr haben wir es dann
reaktiviert und u.a. 'FM Einheit' und die zweite von Tom Mega darauf veröffentlicht."
Was hat sie
dazu bewogen, ist der Markt tatsächlich bereit für mehr Deutsches?
Eggert: "Ich denke schon. Die Akzeptanz beim Publikum ist höher,
außerdem gehen die Bands auch unverkrampfter an die Sache heran.
Allerdings hat man es in Bezug auf die Medien mit englischen und amerikanischen
Gruppen doch noch viel einfacher. Da müßte sich etwas ändern!"
Mit ca. 10.000 verkauften Alben sieht es bei Tom Mega schon ganz gut aus.
Würde er einen Vertrag mit einer Major-Company unterzeichnen? "Nein,
warum sollte ich? Schau mal, der Dietrich Eggert redet mir überhaupt
nicht rein, während ich von anderen Firmen wie Polydor, Sony und
EMI gehört habe, daß da so Leute sitzen, die meinen, weil sie
früher mal ein halbes Jahr in irgendeiner Kapelle gespielt haben,
hätten sie die große Ahnung und müßten dir sagen,
wo der Hase musikalisch herlaufen soll. Das muß ich nicht haben!"
Was die Firma Polydor betrifft, wird diese Meinung allerdings von Personen
widerlegt, die es besser wissen sollten. Dort ist Tim Renner der maßgebliche
Label-Manager, der sowohl für die Jungs von M.Walking on The Water
als auch für Phillip Boa ein Grund ist, bei dieser Firma zu bleiben.
Phillip Boa: "Die Polydor hat mir jetzt einen langjährigen Vertrag
angeboten. Aber wer garantiert mir, daß der Tim in fünf Jahren
noch bei der Polydor ist? Ich weiß, daß ich immer einen Plattenvertrag
kriege, auch noch in zehn Jahren und auch im Ausland, also warum sollte
ich mich langfristig an eine bestimmte Firma binden. Ich habe gerade meinen
Manager gefeuert, weil der mit einer anderen Major-Company einen großen
Deal ausgehandelt hat und mich dauernd nervte, ich solle ihn unterzeichnen.
Wenn ich darauf eingegangen wäre, bräuchte ich jetzt nicht nach
Malta auszuwandern, sondern könnte mich auf die Bahamas absetzen.
Aber das will ich nicht. Ich muß machen können was ich will,
und wenn es jede Menge fiese Faxe sind, die ich dem Tim Renner schicke.
Der kann damit arbeiten."
So sieht Herr Boa das. Er kann es sich leisten, denn, wie er selbst sagt,
ist er "spät genug zu einer großen Firma gegangen",
das heißt, seine Verkäufe bewegten sich von Anfang an in Dimensionen,
die auch Tim Renner gegenüber seinen Chefs den Rücken stärkten
und ihm die Möglichkeit gaben, weitere erfolgversprechende deutsche
Bands einzukaufen.
Das bleibt nicht ohne Wirkung auf die Konkurrenz. Bei fünf- bis sechsstelligen
Verkaufszahlen muß diese reagieren. So kaufte die Phonogram in Köln
kürzlich die neueste Produktion von Rausch. Paul Grau, Produzent
von Rausch: "Die erste Platte haben wir im Studio selbst produziert
und auf meinem HeartBeat-Label veröffentlicht. Als die Firmen jetzt
mitgekriegt haben, daß wir uns nach einem potenten Partner umsehen,
haben die uns fast die Tür eingerannt. Wir haben uns für die
Phonogram entschieden, weil die hier direkt um die Ecke ihren Sitz haben
und wir die Leute dort kennen und schätzen. Außerdem stimmte
das Geld!"
Man bekommt den Eindruck daß für deutsche Bands mittlerweile
paradiesische Zustände herrschen, doch sollte man sich von solchen
Geschichten nicht täuschen lassen. Auch Rausch mußten jahrelange
Live-Arbeit und jede Menge Promotion-Aktionen hinter sich bringen, bevor
sie in diese Position kommen konnten.
In unserer Region haben sich ähnliche Aktivitäten für Cliff
Barnes& The Fear Of Winning bezahlt gemacht. Weil die Band den
Ruf hat, ein guter Live-Act zu sein, bekam sie jetzt das Angebot von der
Intercord, eine Live-Platte zu veröffentlichen. Bob Giddens von CBATFOW:
"Wir gehen damit kein Risiko ein, denn wir produzieren die Live-Scheibe
selbst und verkaufen das fertige Produkt an die Intercord. Wenn sich herausstellt,
daß die Zusammenarbeit gut läuft, werden wir unser nächstes
Studioalbum, das im Herbst erscheinen soll, auch an die verkaufen. Das
gibt uns die Möglichkeit, auch auf den internationalen Markt zu gelangen,
was mit unserer alten Plattenfirma in G.-M.Hütte nicht machbar gewesen
wäre."
Ganz so illusorisch ist diese Vorstellung nicht, denn was alle bisher
erwähnten Bands gemeinsam haben, ist der internationale Touch: keine
deutschen Texte a la "blaue Augen" und "hohe Berge",
kein verkrampfter Krautrock, noch stumpf-stampfender Hardrock.
So schreitet die Emanzipation der deutschen Rockmusik weiter voran. Stärkeres
Selbstbewußtsein und geänderte Produktionsbedingungen machen
es möglich, daß Bands durchsetzen können, was sie für
richtig halten.
Alien Fire ist eine andere Band aus dem Raum Osnabrück, die
Erfahrung mit einer Major-Company, der Phonogram, gemacht hat. Martin
Englert: "Am wichtigsten ist der persönliche Kontakt mit den
verantwortlichen Leuten in der Firma. Wenn du mit denen gut klar kommst,
ist schon viel gewonnen. Unser Ansprechpartner bei der Phonogram ist jetzt
zu East West Records gewechselt und soll sich dort auch verstärkt
um progressive deutsche Bands kümmern. Daran sieht man auch, daß
von denen wieder eine Art Trend gewittert wird.
Man hat natürlich Vorteile, wenn man, wie wir im eigenen Studio arbeiten
und dann die Platte fix und fertig anbieten kann, bevor jemand bei der
Firma anfängt, daran etwas verändern zu wollen. Wer diese Möglichkeit
nicht hat, sollte lieber noch warten oder zu einer kleinen Firma gehen,
die im Anfangsstadium mehr für eine Band tun kann."
Stadtbladt
Osnabrück 4/91
Mit freundlicher Genehmigung!
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